Paradigmenwechsel

Quo vadis Welt?

Angesichts wachsender globaler Krisen scheint es geboten, einen Schritt zurückzutreten und bestehende Paradigmen unseres Denkens und Handelns zu revidieren. Ökologische, systemische Ansätze und Fragen nach Diversität und Nachhaltigkeit werden dabei auch in puncto Technologie und Digitalisierung immer dringender. mur.at begibt sich mit dem Jahresprojekt 2021 mitten in diese Thematik. Durch künstlerische, praktische und diskursive Arbeit werden Lösungsansätze zu entwickeln versucht. Dabei steht lokale Aktivität im Spannungsfeld mit globaler Vernetzung und Austausch. Work- sessions, eine offene Residency, offene Diskussionsrunden und Gruppenarbeit münden in einer Ausstellung, die verschiedene Positionen in Form von künstlerischen Arbeiten, Performances und Präsentationen vereint. Die Diskursformate beziehen einen offenen Interessent:innenkreis sowie Fachpublikum ein.

Die Corona-Pandemie zwingt weltweit viele Länder in unterschiedliche Phasen des Lockdown, einhergehend mit massiven Einschränkungen des Alltagslebens sowie der demokratischen Grundrechte. Unter dem Titel „Ausnahmezustand” versuchen nationale Krisenmanagements einen kalkulierbaren Umgang mit der Pandemie sicherzustellen: Testreihen und Technologien wie „Tracing-Apps” versprechen statistisch überprüfbare Modelle für eine sofortige Reaktion auf steigende Infektionszahlen und eine schnellere Rückkehr zu einer „neuen Normalität“. Diese Narrative stellen Innovation und Technologie als Allheilmittel dar. Ähnlich wie mit einer „Smartness“ des Alltags und des Urbanen wird versprochen, Herausforderungen wie Klimawandel, Überbevölkerung, Finanzkrise, Sicherheitsbedrohungen, usw. lösen zu können. Inmitten einer Situation, in der viele bisher konstante Faktoren auf einmal zu unbekannten Variablen mutieren, wird längerfristige Zukunftsplanung zu einem fragilen Konstrukt. Das Gefühl der Unsicherheit befeuert kontroverse Narrationen, spaltet Gesellschaften und ermutigt Unterstützer:innen verschiedenster Verschwörungstheorien (Impfgegner:innen, Scheibentheoretiker:innen, Leugner:innen der menschengemachten globalen Erwärmung, Rechtsextreme QAnon Mitglieder:innen, usw.) gegen die repressiven Maßnahmen der Regierungen auf die Strasse zu gehen. Wir erleben ein goldenes Zeitalter sowohl der frei und leicht verfügbaren Fakten als auch deren massiver Ablehnung. Ideen, die längst an den Rand des Aberglaubens verwiesen wurden, erfahren eine Renaissance und werden scheinbar über Nacht zur populären Leitkultur. Wir erleben sowohl eine fortschreitende Übernahme von vormals menschlichen Handlungsfeldern durch (kommerzielle bzw. wirtschaftsgesteuerte) Algorithmen und vernetze Systeme, als auch den Kampf um die Wiedergewinnung von Handlungsfreiheit und Ressourcen. Dies wird beeinflusst durch die Diskussion um Verantwortung, gesellschaftlichen Konsens und Gleichberechtigung auf globaler und einzelgesellschaftlicher Ebene.

Quo vadis Digitalisierung?

Heutzutage ist die Überzeugung weit verbreitet, dass maschinelles Lernen und kommerzielle Überwachung selbst die einfältigsten Verschwörungstheoretiker:innen in gewaltbereite Extremist:innen verwandeln können. Durch eine verzerrte Wahrnehmung und mit künstlicher Intelligenz verfeinerten alternativen Fakten können rationale Entscheidungsfähigkeiten umgangen werden und somit alltägliche Menschen in Anhänger:innen abstruser Verschwörungstheorien verwandelt werden. Beobachtet zu werden verändert automatisch unser Verhalten, und das nicht zum Besseren. Es schafft Risiken für unseren sozialen Fortschritt. Überwachung raubt uns buchstäblich unseren freien Willen - wenn unsere persönlichen Daten mit maschinellem Lernen vermischt werden, entsteht ein neuartiges Überzeugungssystem, das so verheerend ist, dass wir dem hilflos ausgeliefert sind. Google, Facebook, Twitter und andere Überwachungskapitalisten versprechen ihren Kunden (den Werbetreibenden), dass sie, unter Anwendung maschineller Lernwerkzeuge, die auf unvorstellbar großen Datenmengen (u.a. nicht einvernehmlich gesammelter persönlicher Informationen) trainiert sind, Wege finden können, um die rationalen Entscheidungsfähigkeiten der Öffentlichkeit umgehen können und somit unser Verhalten, Entscheidungen, Wahlen und andere gewünschte Ergebnisse nicht nur beeinflussen sondern auch erzeugen können. Wenn Facebook wegen ‚Radikalisierung‘ und ‚Hetze‘ zur Verantwortung gezogen wird und wenn dessen Rolle bei der Verbreitung von alternativen Fakten (‚Fake News‘) über das Coronavirus auf deren Algorithmus zurückgeführt wird, impliziert das, dass maschinelles Lernen und Überwachung eine Änderung in unserer Urteilsfähigkeit bewirken, was wir als Wahrheit einstufen. Unsere sozialen Netzwerke sind voll von Fehlinformationen und extremistischen Ideen. Die EU-Kommission will mittels Upload-Filtern dieser stetigen Radikalisierung entgegenwirken, die USA zwingen ihre im Silicon Valley beheimateten Technologieunternehmen (u.a. Apple, Google, Facebook, Amazon, Netflix), ihre Benutzer auszuspionieren und sie für ihre verhetzenden Inhalte zur Verantwortung zu ziehen. Demokratische US-Abgeordnete fordern drastische Gesetzesänderungen, um mehr Fairness in digitalen Märkten garantieren zu können. Es wird viel Energie aufgebracht, um die Silicons nicht nur finanziell in die Verantwortung zu nehmen, denn es ist an der Zeit, dass sie für die selbstverschuldeten Gesellschaftlichen Probleme auch aktive Lösungsstrategien erarbeiten und implementieren. Alle bisher angedachten Lösungen setzen jedoch voraus, dass diese großen Technologieunternehmen zum digitalen Establishment dazugehören und ihre Dominanz über das Internet auch in Zukunft eine unverrückbare Tatsache bleibt. Vorschläge, diese Dominanz durch ein diffuseres und pluralistischeres Internet aufzubrechen, suchte man bisher vergebens. Die bisherigen Lösungsansätze erfordern sogar, dass die Silicons in ihrer Größe und Dominanz bestehen bleiben, da sich nur diese großen Unternehmen die Implementierung der von den Verordnungen und Gesetzen geforderten Systeme leisten können.

Hypothesen

Mehr denn je ist es heutzutage eine essentielle Notwendigkeit, genauestens zu hinterfragen, wie wir zukünftig Technologien verwenden wollen, wie wir autonome Strukturen stärken können und alternative digitale Werkzeuge entwickeln und bereitstellen können. Welche alternativen Strategien können wir dem Überwachungskapitalismus und der neuartigen maschinellen Überzeugungssysteme der Silicons entgegensetzen? Können wir überhaupt noch autonom agieren? Wie nachhaltig ist unser digitaler Lebensstil und unsere digitalen Infrastrukturen? Können wir wirklich grüner leben und Ressourcen sparen in hypervernetzten Häusern und Städten als ein Teil des ‚Internet of everything‘? Oder wird Nachhaltigkeit zu einer weiteren rhetorischen Disposition des grünen Kapitalismus, um die Produktion von immer mehr Geräten zu erzwingen? Nur durch intensive Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen und einem breiteren Diskurs können wir eine informierte und aufgeklärte Gesellschaft werden und uns den Herausforderungen unserer Zeit stellen. Wir befinden uns in einem Paradigmenwechsel, an einem Punkt, an dem wir versuchen herauszufinden, ob wir die Kräfte und Strukturen, die unseren Umgang mit digitalen Technologien und mit dem Internet dominieren und unseren Alltag fundamental beeinflussen, unter Kontrolle bringen können, oder ob wir die Verantwortung selbst übernehmen wollen. Ist es unmöglich, beide Strategien gleichzeitig verfolgen, oder müssen wir jetzt eine Wahl treffen und diese konsequent verfolgen? Zur Erlangung von Handlungsspielraum, digitaler Souveränität und einer menschenorientierten, nachhaltigen Technikentwicklung sind Free/Libre Open Source Initiativen, dezentrale und ökologisch nachhaltige Netzstrukturen, kritische Netzkunst und digitaler subversiver Aktivismus essentiell. Wir ahnen: es gibt nicht die „eine“ Lösung, die „beste“ Technologie, es gibt auch nicht „das eine“ System. Wir befinden uns in einem Geflecht aus Notwendigkeiten, Dependenzen und Kräften, und müssen uns darauf einlassen, vieles Gewohnte, bekannte Ideen, Praktiken, Technologien und Identitäten aufzugeben und neu zu verhandeln. Am Schnittpunkt von künstlerisch-kreativen und praktischen Techniken lassen sich neue Wege und Perspektiven darauf eröffnen, was (physische/digitale) Netzwerke und vernetzte Services im Kontext von solchen neuen Ökologien bedeuten können. Wie müssen sich bestehende Werkzeuge verändern oder welche neuen Tools braucht es, um solch einen Paradigmenwechsel zu vollziehen? Mit dem Jahresprogramm 2021 wollen wir bei mur.at dieses Themenfeld mit verschiedenen Methoden und aus unterschiedlichen Blickwinkeln bearbeiten. Ausgehend von einer Reflexion des Ist-Zustands entwerfen wir Ansätze für praktische Werkzeuge (Software und Hardware, Interfaces zwischen physischem und digitalem Raum) sowie Denkwerkzeuge (Utopien, Handbücher, Manifeste), wir entwickeln Ideen für deren Anwendung und deren mögliche soziale und politische Implikationen. Technik ist dabei weder Ziel noch Selbstzweck, sondern Teil und Basis unserer kreativen Auseinandersetzung. Dabei suchen wir die Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Partner:innen. Ziel ist es, sowohl nach außen hin künstlerische und technische Aus-Blicke in Richtung Zukunft zu werfen, als auch nach innen hin in unserem Verein und unserer direkten Umgebung langfristig bestehende Strukturen zu überdenken, Wege zu öffnen für Neues und die Idee mur.at in Richtung morgen weiter zu denken.