Von 10. Oktober bis 10. Dezember 2016 liefen künstlerische Einschaltungen im öffentlichen Interesse, ausgehend vom Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), auf den Infoscreens in den öffentlichen Verkehrsmitteln der “Menschenrechtsstadt” Graz und auf der Video Wall am Jakominiplatz.
Ein Projekt von mur.at in Zusammenarbeit mit dem ETC Graz und dem Uni-ETC der Universität Graz, in Kooperation mit der Akademie Graz und mit Dank an das Forum Stadtpark für den Begegnungsraum für Künstler_innen und Menschenrechtsexpert_innen mit Blick auf den Platz der Menschenrechte.
Neun Sekunden Zeit, um eine künstlerische Stellungnahme zum Thema Menschenrechte abzugeben. Nicht in einem Kunstraum, in dem das Publikum auf die Rezeption von Kunst ,,vorprogrammiert'' ist – grundlegende Akzeptanz und Reflexionsbereitsschaft können bei Ausstellungsbesucher_innen für gewöhnlich vorausgesetzt werden –, sondern in einem Umfeld, das die Aufgabenstellung nicht leichter macht: in der Endlosschleife aus Nachrichten, Werbung und Unterhaltung auf den Infoscreens in den Straßenbahnen und Bussen, auf der Videowall im Zentrum der Stadt. Mitten im Alltag also. Mit allen Nebenwirkungen, allen voran die harte Konkurrenz der Smartphones, an die sich ein hoher Prozentsatz jener Menschen klammert, die etwa in der Früh in die Schule oder in die Arbeit unterwegs sind.
Eine Kunst, die den White Cube verlässt, um im Lebensraum der Menschen Position zu beziehen, die hier undercover interveniert, hat es grundsätzlich nicht leicht, aber auch die Chance, ein ,,breiteres Publikum'' anzusprechen. So zumindest die Theorie. Denn hinter der oft bemühten Formulierung steckt nichts anderes als eine schwer einschätzbare, maximal heterogene Gruppe potenzieller Rezipient_innen.
Kann es angesichts dieser Voraussetzungen gelingen, die Menschen tatsächlich zu erreichen, die Differenzschwelle zur Alltagswahrnehmung zu überwinden, um von hier aus einen Perspektivenwechsel anzuregen und ein Nachdenken anzustoßen?
Und das bei diesem Inhalt? MENSCHENRECHTE wörtlich nehmen. Wie kann man dieses gleichermaßen schwerwiegende wie aktuelle Thema, das wie kaum ein anderes von öffentlichem Interesse ist, in nur neun Sekunden (einer Standardlänge der Werbeeinschaltungen in diesem Medienformat) fassen, ihm nur annähernd gerecht werden? Eine Herausforderung.
Wer den Text der Menschenrechtserklärung von 1948 (AEMR) liest, spürt die Notwendigkeit eines solchen Papiers nach dem unmenschlichen Wahnsinn der Zeit des Nationalsozialismus. Nähme man die Deklaration wörtlich, so könnte man von einem bewusst naiven Standpunkt aus behaupten: Würden die 30 Artikel der Deklaration beachtet werden, von jeder/m Einzelnen im Alltag und auf politischer Ebene, wäre ein menschenwürdiges und respektvolles Miteinander selbstverständlich, wären blutige Konflikte, Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit kein Thema mehr. Allein der erste Artikel würde genügen, so könnte man als Leser_in meinen: ,,Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.''
Aber ist dieser ,,schöne'' Text, ethischer Imperativ einer friedlichen Ko-Existenz, mehr als eine unverbindliche Empfehlung? Ein Blick auf die (welt)politische und gesellschaftliche Landschaft der Gegenwart legt eine desillusionierende Antwort nahe.
Im Verlauf des Projekts sollte sich zeigen, dass es zwar ,,Bibliotheken an Interpretationen jedes einzelnen Artikels'' der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt, dass mit der Europäischen Deklaration der Menschenrechte (EMRK) auch ein völkerrechtliches Vertragswerk vorliegt, das von den 47 Mitgliedsstaaten des Europarates ratifiziert wurde, dass die (weltweite) Durchsetzbarkeit von Menschenrechten aber die zentrale Frage bleibt. Heute mehr denn je.
Dennoch oder besser: Gerade deshalb war es den Versuch wert, Menschenrechts-expert_innen, die in der ,,Menschenrechtsstadt Graz'' tätig sind, mit Künstler_innen zusammenzubringen, dabei sowohl Disziplinen- als auch Kunstspartengrenzen zu überschreiten und aus diesem Dialog heraus die Menschenrechte, nicht nur am 10. Dezember, öffentlich zum (Alltags)Thema zu machen.
Eingeladen waren Künstlerinnen und Künstler, die über einen Bezug zur Stadt Graz verfügen und deren bisherige Arbeit, vielfach im öffentlichen Raum, für eine aktuelle Kunst steht, die gesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Den Künstler_innen war es freigestellt, welche Aspekte des Themas sie in ihren Beiträgen zur Diskussion stellen wollten: jene, die in den Begegnungsräumen des Projekts mit den Menschenrechtsexpert_innen diskutiert wurden oder andere. Der Fokus konnte auf allgemeine menschenrechtliche Fragestellungen genauso wie auf den Inhalt bzw. den Wortlaut einzelner Artikel der Menschenrechtserklärung gelegt werden. Ob neun Sekunden lang ein Bild, eine Abfolge bewegter Bilder, ein Text, ein Satz, ein Wort oder auch eine Kombination der genannten Möglichkeiten zu sehen sein sollte – allein die Tonlosigkeit der Clips war eine den Rahmenbedingungen des Mediums geschuldete Vorgabe – , wurde ebenfalls offen gehalten. Alle Künstler_innen haben sich schließlich für das Format Video bzw. Animation entschieden. Die Frage, welche Rolle hier die Standards des medialen Umfelds gespielt haben, wird anhand der einzelnen Projektbeiträge noch zu erörtern sein.
Auf der inhaltlichen Ebene ist es jedenfalls kein Zufall, sondern ein Zeitbefund, dass sich eine deutliche Mehrheit der Beiträge, direkt oder indirekt, mit jenem Thema auseinandersetzt, das spätestens im Herbst 2015 in unserer mitteleuropäischen Alltagsrealität angekommen ist und im Projektzeitraum durch den ,,Flüchtlingspakt'' mit der Türkei (der Begriff spricht für sich) und die Dublin-Verordnung, gerade in Bezug auf die Wahrung von Menschenrechten, eine mehr als fragwürdige Scheinlösung erfahren hat. Die Beiträge thematisieren das Recht auf Reisefreiheit, das Recht auf Asyl, das Recht auf Arbeit und auf Bildung und, allen voran, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Sie setzen an der theoretisch gegebenen universellen Gültigkeit der Menschenrechte an – und am ernüchternden Faktum, dass die Antwort auf die Frage, ob ein Mensch diese Rechte auch in der Praxis geltend machen kann, vom Ort seiner Geburt und seinem Status als Staatsbürger_in abhängt. Ein zweiter inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf der Meinungsfreiheit als grundlegendem Menschenrecht.
Die ,,endlose Weite'' des Meeres. Ein Sonnenuntergang. Ein Foto nach dem anderen. Im Stakkato der Bildfolge, in dem keine Zeit für kontemplative Beschaulichkeit bleibt, verdichtet sich die ,,brutale Ambivalenz'' (zweintopf) des Sujets und unserer Gegenwart. Dasselbe Meer, dieselbe Sonne: für die einen ,,Romantik pur'' (in der Kunst wie im Leben), in trauter Zweisamkeit oder im Kollektiv bestaunt, fotografisch festgehalten und umgehend in einem der sozialen Netzwerke ,,geteilt'', für die anderen, eng zusammengedrängt in einem überfüllten Boot auf dem offenen Meer, bedrohliches Vorzeichen einer Nacht, die es unter traumatisierenden Bedingungen zu überleben gilt. Urlaubsdestination einer Wohlstandsgesellschaft oder Massengrab für die ,,Verlierer_innen'' des globalisierten Kapitalismus – es hängt von der Perspektive ab.
zweintopf greifen auf frei verfügbare, im Internet veröffentlichte Fotos zurück, die nicht nur das geographische und geopolitische Terrain abstecken, sondern im Kontext des Mediums Infoscreen in einen medienreflexiven Dialog eintreten: In den neuen Zusammenhang gesetzt konterkarieren die privaten Aufnahmen die Übermacht jener öffentlichen Bilder, die in ihrer Wiederholung längst zum symbolischen ,,Standbild'' für das humanitäre Desaster und die Unfähigkeit des Herbeiführens einer an den Ursachen von Flucht und Vertreibung ansetzenden Lösung erstarrt sind. Anders betrachtet: zweintopf arbeiten mit emotionalen Kippbildern. Über ein kollektives Sehnsuchtsbild und die eigene Erfahrung, vorbei an der distanzierten medialen Wahrnehmung, ermöglichen sie den Rezipient_innen einen unerwarteten (inter)subjektiven Zugang zur Thematik. Das Hintereinanderschalten ähnlicher Motive erweist sich dabei in mehrfacher Hinsicht als ein Mittel der Konzentration: Ist die grundlegende Bildinformation einmal erfasst, erscheint die kurze Zeitspanne von neun Sekunden sogar gedehnt.
Petra Sterry wählt für ihren Versuch, den Stereotypen der veröffentlichten Meinung zu begegnen, einen anderen, paradox anmutenden Weg: Nacheinander tauchen, auf rotem Grund, drei in Großbuchstaben gesetzte Worte auf, die voneinander isoliert lesbar sind: GLAUBE MACHT BLIND. Als Satz wahrgenommen wird das Text-Bild selbst zur ,,platten Behauptung'' (Sterry). ,,Eine Unterstellung'', so Sterry, die Widerspruch provozieren will. Gezielt legt die Künstlerin den Fokus auf den Gebrauch der Sprache, thematisiert damit deren Rolle in der Polarisierung der Gesellschaft – und polarisiert selbst. Kann das Konzept aufgehen? Wird hier die Grenze zwischen Herausforderung und Überforderung der Rezipient_innen (im öffentlichen Raum) überschritten? Würden sich gläubige Menschen, welcher Konfession auch immer, verletzt fühlen und aus einer emotionalen Abwehrhaltung heraus die intendierte Reflexionsarbeit verweigern? Glaubensfreiheit ist ein Menschenrecht. Gießt ein Satz wie dieser Öl ins Feuer der ,,gefährlichen Dominanz des Emotionalen'' (A. Badiou) und des seit 9/11 über die Religionszugehörigkeit ausgetragenen Konflikts, der mit Trumps Einreiseverbot gegen Muslime, aber auch mit Erdoğans Pathologisierung der Entscheidung, keiner Religion anzuhängen, neue Höhepunkte erreicht hat? Die Künstlerin sieht ihren Beitrag als Stellungnahme gegen pauschale (Vor)Urteile, gegen den Missbrauch des Glaubens für religiöse, politische und ökonomische Machtinteressen, gegen die Radikalisierung und die Gewalt, gegen den Verlust der Vernunft. Gegen all das, was einen irgendjemand, aus ureigenstem Interesse, glauben machen will. Und das könne der unkritische Glaube an die Wissenschaft (Stammzellenforschung, Gentechnologie…) genauso sein wie der narzisstische Glaube an das Ego. Dass der rote Hintergrund sich bei näherer Betrachtung als Blut identifizieren lässt, fördert, gerade in einem Nachrichtenmedium, das der Infoscreen auch ist, die Interpretation im Kontext des islamistischen Terrors. Wenn man Brüche benennen will, die eine künstlerische Botschaft von all den anderen, von Kommunikationstrateg_innen erdachten, eindeutigen Botschaften unterscheiden soll, sind es hier die den Medienbildern entgegengestellte abstrahierte, ,,klinische'' Erscheinungsform des Blutes und die Reihe der einzelnen Wörter, in deren Zentrum das Wort MACHT als gedanklicher Angelpunkt steht.
Auch der Poetry Slammer Mario Tomić (PrOtEsT) arbeitet in seinem Video-Clip mit einer Wortfolge: AUF MUND MACHST DU TAPE ODER DU MACHST MUND AUF. Die Wörter TAPE ODER sind dabei die bewusst konstruierte Spiegelachse. In Großaufnahme ist Tomićs Gesicht zu sehen: Jedes der Wörter ist auf ein Stück schwarzes Klebeband geschrieben, das seinen Mund verschließt. Ohne mit der Wimper zu zucken erträgt er die wiederholte Prozedur des Abreißens und Anbringens der einzelnen Klebestreifen. Der Vorgang wird nicht gezeigt, auch nicht der Schmerz. Aber er ist da. Implizit präsent sind auch in Tomićs Beitrag Bilder aus den Medien: Jene, die den 25-jährigen Asylwerber Marcus Omofuma zeigen, der 1991 im Zuge seiner Abschiebung höchstwahrscheinlich an dem Klebeband, mit dem ihn die begleitenden Beamten ,,ruhiggestellt'' hatten, erstickt war. Wie in den folgenden Gerichtsverfahren nachgewiesen wurde, waren die Tapes mehrmals abgerissen und neu aufgeklebt worden. Die brutale Vorgangsweise hatte schockiert und zog in direkter Konsequenz die Gründung des Menschenrechtbeirates im BMI nach sich. Auch wenn nicht jeder ,,Fall'' so endet – wenn man in abstrakten Zahlen von Asylobergrenzen und Abschiebungen spricht, muss man auch von den menschlichen Tragödien sprechen, die damit verbunden sind. Man muss darüber sprechen. Tomić stellt mit der Verwendung der grammatikalisch fehlerhaften Befehlsform nicht nur, auch auf der sprachlichen Ebene, die gedankliche Verbindung zu einer demütigenden Verhörsituation her, die stumme Textperformance ruft auf einer weit grundlegenderen Bedeutungsebene in Erinnerung, dass es darum geht, den Mund aufmachen: Menschenrechte müssen eingefordert werden.
Dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Wahrung aller Menschenrechte untrennbar miteinander verknüpft sind, visualisiert ein weiterer Beitrag: ISAYweSAY von Marie Aimetti und Bernadette Moser, die über das Daily Rhythms Collective Teil des Projekts geworden sind. Unterschiedliche Münder formen, in verschiedenen Sprachen, einen Satz. Die Untertitel: ,,Ich habe das Recht, meine Gedanken frei auszusprechen.'' Auf Farbe verzichten die Künstlerinnen, ein Gestaltungsmittel, das den Zusammenschluss der sprechenden Individuen zu einem Kollektiv unterstützt. Seinen Gedanken und seiner Meinung öffentlich Ausdruck zu verleihen und auch darüber streiten zu dürfen, ist das Fundament jeder demokratischen Gesellschaft. Die Grenze liegt bekanntermaßen da, wo durch die Ausübung dieses Rechtes die (Persönlichkeits)Rechte anderer Menschen verletzt werden oder der Gesellschaft Schaden zugefügt wird. Ein Tatbestand, der sowohl für religiös-fundamentalistische Gewaltaufrufe als auch für die Hetzreden rechtspopulistischer WiedergängerInnen gilt. Rassismus ist keine Meinung.
,,Seperately I am, together we are.'' Für Wolfgang Temmel ist die Arbeit im Kollektiv (TEER, sinnlos, Stille Post Orchester) künstlerisches und gesellschaftspolitisches Programm. Erst recht, wenn es um das Thema Menschenrechte geht. Folgerichtig entscheidet sich Temmel für die Zusammenarbeit mit jungen Menschen und delegiert die Videoproduktion an eine Gruppe von SchülerInnen der HTBLVA Ortweinschule. Der Fokus liegt, in einem Raster kreisrunder Bildausschnitte auf blauem Grund, auf unterschiedlichen Augen, die sich öffnen und schließen. Im geschlossenen Zustand werden die auf die Augenlider geschriebenen Buchstaben sichtbar: HUMAN RIGHTS sind hier buchstäblich wörtlich genommen. Mit diesem Motiv setzt Temmel eine zentrale Voraussetzung für die Wahrung von Menschenrechten symbolisch um. Zwischen Wegschauen und Hinschauen, Egozentrismus und solidarischem Handeln liegt ein kognitiver Prozess, eine bewusste Entscheidung. ,,Blinde Empathie'' (Žižek) ist in diesem Zusammenhang keine Kategorie. Wolfgang Temmel öffnet mit seinem Beitrag einen Denkraum, der auch im Videoclip von Marie Aimetti und Bernadette Moser angelegt ist. Im Zentrum steht das spannungsreiche Verhältnis zwischen Individuen, die miteinander auskommen wollen oder besser: müssen. Die Notwendigkeit, die eigenen Interessen nur so weit zu verfolgen wie die der anderen gewahrt bleiben, Raum und Ressourcen zu teilen und zusammenzuarbeiten, ist uns kaum je drastischer vor Augen geführt worden als dies in der Gegenwart geschieht. Nebenbei bemerkt: Im Soziotop einer (überfüllten) Straßenbahn kann der moralphilosophische Dauerbrenner schnell zum Gegenstand einer exemplarischen Versuchsanordnung werden.
Der künstlerische Einsatz des (eigenen) Körpers ist immer mit existenziellen Fragen verbunden – und nie unpolitisch. Man denke nur an die Wiener Aktionisten oder etwa an Marina Abramovićs Balkan Baroque. Es sind Bilder des Widerstands, die unter die Haut gehen. Bei Miriam Raggam werden drei nackte Körper in Rückansicht zur ,,Projektionsfigur''. Sie bewegen sich fast unmerklich, erst auf den zweiten Blick bemerkt man ein Atmen. Die auf die Rücken projizierte ,,Checkliste'': Arbeitserlaubnis, Aufenthaltsgenehmigung, Reisefreiheit. Für gewöhnlich dienen Checklisten dazu, eine Situation in den Griff zu bekommen. Am Ende steht eine Schritt für Schritt gelöste Aufgabe, ein erfülltes (und erfüllbares) Soll. Keine Utopie. Miriam Raggam tritt für die Rechte jener Menschen ein, auf deren Rücken mit unmenschlicher Härte eine Problematik ausgetragen wird, die durch die gnadenlose Konkurrenz- und Profitlogik des weltweiten kapitalistischen Systems verursacht wurde. Es sind Menschen, die es, folgt man dieser Logik, ,,gar nicht geben dürfte'', wie es Alain Badiou fomuliert hat. Menschen, die nichts zählen, weil sie weder Konsument_innen noch Erwerbstätige sind. Menschen, die ihrer existenziellen Grundlagen beraubt und ohne Zukunftsperspektive, als staatenlos gewordene Nicht-BürgerInnen in ein überfordertes Europa aufbrechen – ohne Zugang zu geltendem (Menschen)Recht. Trotz des völkerrechtlichen Grundrechts in einem Staat Asyl zu beantragen gibt es für Asylsuchende keine legale Möglichkeit einzureisen. Die Einbettung der Clips von MENSCHENRECHTE wörtlich nehmen in den aktuellen Nachrichtenstrom generiert einen täglich wechselnden Bezugsrahmen. Am 34. Oktober 2016 gemeinsam mit Miriam Raggams Beitrag auf den Infoscreens: die Räumung des Flüchtlingslagers in Calais.
Für ,,nomadische Menschenrechte'' plädiert, ausgehend von Überlegungen Hannah Arendts und Giorgio Agambens, auch Andrea Ressi. Agamben kritisiert in seinem Homo Sacer die zunehmende Schaffung rechtsfreier Räume, die den Menschen auf sein ,,nacktes Leben'' reduziert. Ressi setzt, begleitet vom Slogan WE HAVE RIGHTS – NO MATTER WHERE WE GO, eine formal reduzierte, leicht verständliche, piktogrammartige Zeichensprache ein, mit deren Hilfe sie, einem konsequent ortsspezifischen Konzept folgend, zwei Bewegungs- und Zeichensysteme aufeinander bezieht: das des öffentlichen Verkehrs (Liniennetzpläne , die Anzeige von Fahrtroute und -richtung auf den Infoscreens) und ein abstrahiertes Mapping globaler Migrationsrouten. Eine bewegte Linie durchquert in drei verschiedenen Clips die territorialen Strukturen von Staaten, Städten und Meeren (NATIONS, CITIES, SEA). In Ressis Beitrag steht der zentrale Widerspruch des universalistischen Menschenrechtsbegriffs im Fokus: dass die Menschenrechte zwar im Prinzip für jeden Menschen gelten, dass deren Einhaltung aber davon abhängt, auf welchem Territorium der Mensch sich befindet und ob er oder sie Bürger_in dieses Staates ist. Die Durchsetzung der Menschenrechte liegt im Jurisdiktionsbereich der Nationalstaaten, weshalb die extraterritoriale Anwendung zu den wichtigsten aktuellen Forderungen internationaler MenschenrechtsexpertInnen gehört. Nicht zu trennen ist diese strukturell bedingte Problematik von der Unterwanderung staatlicher Kompetenzen, einer ,,neuen Zonierung der Welt'' (A. Badiou) entsprechend den Machtsphären global agierender Industrie-, Bank- und Handelskonglomerate.
WE ALL HAVE THE RIGHT TO MOVE FREELY. Inhaltlichen Parallelen zu den Clips von Miriam Raggam und Andrea Ressi (Thema Reisefreiheit) steht beim Beitrag des Daily Rhythms Collectives, ausgehend von der Zielgruppenfrage, die Wahl einer entschieden anderen, spielerischen Bildsprache gegenüber: Animierte Mischwesen aus Tier und Mensch bewegen sich über die farbenfrohe, ornamental mit vegetabilen Versatzstücken ausgestattete Bildfläche und vollführen amüsante, schier unmögliche Verrenkungen. Physische Grenzen werden ausgelotet und überschritten. Da dreht sich schon einmal ein Handgelenk um 360 Grad, und für die Katzenfrau, die mit einem Salto rückwärts aus dem Bild fliegt, ist Schwerkraft sowieso kein Thema. Giraffe, Tukan, Eule, Zebra, Rentier, Tiger, Katze, Fuchs, Gorilla: Die Tiere kommen ,,von überall her'', und jedes hat seinen Bewegungs-Freiraum. Eine symbolische Bedeutung analog zur belehrenden Funktion von Fabel-Tieren ist nicht erkennbar, denn mit Vorurteilen in Bezug auf Charaktereigenschaften – und mit Belehrung – haben die Künstlerinnen nichts am Hut. Im Gegenteil. Einer Gesellschaft, die auf die ,, Angstprobe'' (F. Stern) gestellt ist, wird hier Unbeschwertheit und die Kraft des positiven Denkens als Gegenmittel verordnet, in einer vielleicht homöopathischen, aber über Generationen-, Kultur- und Sprachbarrieren hinweg wirksamen Dosis.
Wenn die Bilderbuch- und Zeichentrickfilmästhetik eine literarische Assoziation nahelegt, dann jene zu Erich Kästners 1949 veröffentlichtem Kinderbuch Konferenz der Tiere: VertreterInnen aller Tierarten der Erde bringen die Staatsoberhäupter mit kreativ-subversiven Methoden dazu, alle Grenzen aufzuheben, Militär und Waffen abzuschaffen und die zukünftigen Bestrebungen der Menschheit auf den Frieden und das Wohl aller Kinder auszurichten.
Während das Daily Rhythms Collective selbst in die Rolle seiner Protagonistinnen schlüpft, entscheidet sich jenes Kollektiv, das grundsätzlich an Theater und Performance arbeitet, gegen eine performative Lösung. Visuelles Rauschen. Darüber ein Text in arabischen oder chinesischen Schriftzeichen und die Meldung, dass dieser Beitrag aus rechtlichen Gründen nicht verfügbar ist. I am absolutely sorry. Die zweite liga für kunst und kultur macht es den Betrachter_innen nicht leicht. Wo ansetzen? Die Schriftzeichen sind für die ,,Mehrheitsgesellschaft'' nicht lesbar, bleiben ,,fremd''. Vor allem die arabische Schrift gibt Rätsel auf. Muss man womöglich alarmiert sein? Aber man könnte auch einfach die Menschen in der Straßenbahn fragen, von denen man annehmen kann, dass sie diese Sprache sprechen. Kontakt aufnehmen. Ob diese Rechnung, wie von der zweiten liga erhofft, aufgeht, darf hinterfragt werden. Entschlüsselt man den Text über die Projektwebsite, erhält man folgende Übersetzung: ,,Entschuldige, ich kann jetzt nicht an den Menschenrechten arbeiten, ich bin gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, plane mein neues Haus, und die Kinder halten mich auf Trab.'' Das Zitat aus einer E-Mail verweist ein weiteres Mal auf den harten Gegensatz zwischen dem ,,stressigen'', egozentrierten Alltag einer privilegierten Wohlstandsgesellschaft und einem Leben im Ausnahmezustand.
In der ursprünglichen Form des Beitrags – aus urheberrechtlichen Gründen musste die Bildinformation gelöscht werden – hatte die zweite liga Ausschnitte aus Filmen verwendet, in denen verschiedene Schauspieler Adolf Hitler verkörpern. Darunter die entlarvende Realsatire Er ist wieder da. Die Vergangenheit ist nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragbar, im Blick auf das Heute ist nichts schwarz-weiß. Aber wenn die Hemmschwelle für die politische Agitation mit dem ,,Fremden'' schleichend immer niedriger wird und ein Rechtsruck quer durch die Gesellschaft und die Parteienlandschaft geht, muss man alarmiert sein.
Gleich und gleicher. Mit dem ersten Artikel der Menschenrechtsdeklaration hat diese rückblickende Betrachtung begonnen, mit einer Komödie in zwei Akten von Max Höfler endet sie.
Sommer in Graz. Ein Park. Die handelnden Personen: zwei Organe der Ordnungswache, zwei Radfahrer, Passant_innen. Erster Akt: Des Vergehens des Radfahrens in der Parkanlage überführt, erhält Radfahrer A die gerechte Strafe. Von rechts nähert sich Radfahrer B dem Ort der Amtshandlung, erfasst die Situation und steigt vom Fahrrad ab. Zu spät. Auftritt der zweiten Ordnungswache von links, das Schicksal nimmt seinen Lauf. Zweiter Akt: Die beiden Agenten im Dienste der öffentlichen Sicherheit finden sich erneut am Tatort ein – steigen auf ihre Fahrräder und fahren nach rechts ab. Klappe.
Seit 2007 soll die Ordnungswache ,,für ein geregeltes Miteinander und mehr Sicherheit im Stadtgebiet'' sorgen. In ihren schwarzen Uniformen zeigt sie Präsenz im öffentlichen Raum der ,,Menschenrechtsstadt''. Es stellen sich berechtige Fragen: Nicht nur, ob das Sicherheitsgefühl so tatsächlich steigt oder ob, im Gegenteil, das Vorhandensein einer Gefahr erst recht suggeriert und der Ausgang der ,,Angstprobe'' entsprechend vorbestimmt wird. Gerade im öffentlichen Raum muss, immer wieder von neuem, die Frage gestellt werden, wem dieser eigentlich gehört. Besetzt wird er von vielen. Aber was der Politik und Wirtschaft erlaubt ist, ist zum Beispiel der Kunst – zumal diese mit (dekorativ gemeinter) Stadtmöblierung nichts zu tun hat, sondern als bekennend unbequemer, kritischer ,,Störfaktor'' an gesellschaftlichen Zusammenhängen arbeitet – noch lange nicht erlaubt, schon gar nicht permanent. In der Gegenwart verankerte Erinnerungszeichen an die Zeit des Nationalsozialismus müssen weg, eine soziale Skulptur muss weg, andere Projekte dürfen erst gar nicht erst realisiert werden. Worüber nicht die bestehenden Fachgremien entscheiden, sondern der für die Straßen und Plätze zuständige Stadtrat (von 2008 bis 2016 FPÖ) und die ihm untergeordneten Instanzen der Stadtverwaltung. Was für die Kunst im öffentlichen Raum gilt, gilt vor allem auch für die sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen. Am Ende des Projektzeitraums bringen sich in der ganzen Innenstadt flächendeckend Punschstände in Stellung, auch auf dem Hauptplatz. Wer dort (oder ganzjährig auch an den Würstelständen) Alkohol konsumiert, ist willkommen, wer auf den Stufen des Erzherzog-Johann-Brunnens oder am ,,Billa-Eck'' mit einer Dose Bier in der Hand erwischt wird, ist ein Fall für die Ordnungswache. Wenn im Stadtpark – Schauplatz von Höflers filmischer Zufallsdokumentation und ,,heiliger Gral'' des städtischen Naturschutzes – die Polizei mit dem Auto auf dem Platz der Menschenrechte ihre Kreise zieht, darf in Frage gestellt werden, ob das wirklich dazu beiträgt, die vor Ort gegebene schwierige Situation zu bewältigen. Oder ob es hier vor allem um eine Demonstration von (Ordnungs)Macht und des daran geknüpften Prinzips von Überwachen und Strafen geht. Gerade weil es die Aufgabe der staatlichen (und städtischen) Institutionen, allen voran der Polizei, ist, die Menschenrechte zu schützen, ist eine besondere Sorgfalt in Bezug auf die gesetzten Zeichen angebracht.
Dass unsere Zeit durch eine extreme Ungleichheit geprägt ist, ist offensichtlich und durch die ,,Sozialen Medien'' auch sichtbarer denn je. Slavoj Žižek spricht bekanntlich vom ,,neuen Klassenkampf'', Oliver Nachtwey von einer ,,Abstiegsgesellschaft'', die auf einer Rolltreppe nach unten steht. Alain Badiou hatte konkrete Zahlen genannt (2015,2016): 1% der Weltbevölkerung besitzt 46% der verfügbaren Ressourcen, 10% der Weltbevölkerung besitzen 86% der verfügbaren Ressourcen, 50% der Weltbevölkerung besitzen nichts.
Am 10. Dezember 2016 veröffentliche Amnesty International eine Umfrage, die unter anderem die Aussage enthielt, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Menschenrechte haben. 97% der befragten Österreicher_innen hatten zugestimmt.
Wer würde nicht zustimmen? Doch der alljährliche Menschenrechtsbefund der Liga für Menschenrechte und der NGOs zeichnet ein anderes Bild. Auch in Österreich. Neue Problemfelder und Gefahrenzonen für Demokratie und Menschenrechte tun sich auf: die ,,Normalisierung von Online Hass'', die Hetze gegen ganze Bevölkerungsgruppen, die Versuche, einzelne mit sexistischen und rassistischen Botschaften fertig zu machen, die mangelnde Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Gewalt gegen Frauen. Nach der Einführung der Asylobergrenze und der selektiven Kürzung der Mindestsicherung folgt 2017 ein Fremdenrechtspaket, das die Streichung der Grundversorgung und die Abschiebung ohne Vorwarnung beinhaltet. Schließlich kommen die eigenen Interessen zuerst.
Und dabei ist noch nicht von den Worten und Taten der machtgeilen (männlichen) Autokraten in Europa und in Übersee die Rede, die sexistische, rassistische Haltungen und eine polarisierende, diskriminierende Sprache wieder politik- und salonfähig gemacht haben.
MENSCHENRECHTE wörtlich nehmen war der notwendige Versuch, nicht ohne Widerstand hinzunehmen, was sprachlos macht und mit künstlerischen Mitteln öffentlich zur Sprache zu bringen, was angesichts der Dimensionen und der Komplexität des Problemfelds selbst auf der Seite jener, die sich wissenschaftlich damit befassen, schwer fassbar scheint. Wie bei allen Projekten im öffentlichen Raum ist die erzielte Aufmerksamkeit nicht messbar. Wie viele der täglich an die 300.000 Fahrgäste der Grazer ,,Öffis'' und der Passant_innen am Jakominiplatz dieses Angebot der Menschenrechtsbildung und Gegenwartsbewältigung angenommen haben, ist nicht evaluierbar. Fakt ist: Öffentlicher Raum wurde für ein Thema beansprucht, das jede/n Einzelne/n angeht.
Denn Menschenrechtsstadt sind wir alle.
Birgit Kulterer, Februar 2017
Projektwebseite :: http://mrwn.at/ - mit allen Projektvideos
Eröffnung :: 10. Oktober 2016 - 19 Uhr
Projektdauer :: 10. Oktober bis 10 Dezember 2016
Symposion :: 3. und 4. November 2016